Seit der Atomkatastrophe meiden ausländische Touristen das Land. Dabei ist die Strahlung in Tokio nicht höher als in Deutschland. Ein Lagebericht
Herr Mizichiro Iwawuchi ist zuversichtlich. Er ist Marketing-Chef eines kleinen Supermarkts zwei Blocks von der Ginza, Tokios bekanntester Einkaufsstraße, entfernt. Das Sortiment ist bunt: Einfache Sesamcracker und spezielle Buchweizen-Nudeln finden sich hier ebenso wie zahlreiche Sorten von Sake-Spirituosen. Es gibt getrocknete Shiitake-Pilze, deren Züchter schon das dritte Mal den ersten Preis bei einem nationalen Pilzwettbewerb gewonnen hat. In einem Regal stehen neben lackierten Schalen schwarze Teekannen aus Eisen, in denen das Wasser weich und der Tee aromatischer wird. Alle Produkte stammen aus der Provinz Iwate. Seit 13 Jahren unterhält die Provinzverwaltung den Laden, um regionale Spezialitäten dem Hauptstadt-Publikum schmackhaft zu machen. In diesem Jahr brummt das Geschäft. Der Gewinn werde sich wohl auf 100 Millionen Yen (knapp eine Million Euro) verdoppeln, sagt der Mann aus Iwate.
Iwate ist eine Provinz im Norden Japans. Auf Karten, die die radioaktive Belastung nach der Reaktorkatastrophe zeigen, reicht die gefährliche Markierung an die Region heran. Viel schlimmer ist aber die Zerstörung, die der Tsunami am 11. März anrichtete. Die Küste ist verwüstet, Dörfer sind verschwunden, die Fischindustrie existiert nicht mehr. Die Tokioter unterstützen die Tsunami-Region, sie kaufen im Iwate-Supermarkt mehr ein als jemals zuvor. Angst vor radioaktiver Verseuchung ist kein Thema. Bei den Touristen umso mehr.
Seit der Dreifach-Katastrophe im März - Erdbeben, Tsunami und Explosionen in den Atomreaktoren in Fukushima Dai-ichi - meiden die Reisenden das Land. Im Katastrophenmonat ging der Auslandstourismus, verglichen mit dem Vorjahr, um 70 Prozent zurück. Im Mai habe der Rückgang noch bei 50 Prozent gelegen, sagt Kenji Jimbo, Vizepräsident der nationalen japanischen Tourismusorganisation (JNTO). Während der innerjapanische Tourismus fast wieder auf dem üblichen Niveau ist, bereitet es den Touristen aus Übersee noch Unbehagen, in ein verwundetes Land zu reisen. Japan hat 23 000 Menschen verloren, noch immer leben rund 100 000 Entwurzelte in Notunterkünften.
Es ist aber vor allem die diffuse Furcht vor freigesetzter Radioaktivität aus Fukushima, das rund 250 Kilometer nordöstlich von Tokio liegt. So hört man als Japan-Reisender immer wieder dieselbe Frage: "Haben Sie keine Bedenken, verstrahlt zu werden?" In Deutschland steckt eine tiefe Verunsicherung dahinter. In Japan schwingt ein spöttischer bis sarkastischer Unterton mit: Ausländer, die Tokio nach dem Erdbeben schnell per Flugzeug verlassen haben, werden mitunter nicht "Gai-jin" (so bezeichnen Japaner alle Nichtjapaner), sondern ironisch "Fly-jin" genannt.
Die Zurückhaltung der Reisenden ist indes keine spezifisch deutsche Angst. Aus Deutschland kamen im Mai 2011 im Vergleich zum Vorjahresmonat 59,8 Prozent weniger Besucher. Für Südkorea, das mit Abstand wichtigste Land für den japanischen Tourismus, betrug der Rückgang 58,3 Prozent, aus China reisten 47,8 Prozent weniger Touristen ein. Die Tendenz ist aber wieder steigend. "Wir hoffen, dass wir im Herbst und Winter auf dem alten Niveau sein werden", sagt Tourismusmanager Jimbo und versichert, dass der Reisende keine Beeinträchtigung zu fürchten hat.
Wer nicht gerade in die Fukushima-Region fährt, die schon vor der Katastrophe kein bevorzugtes touristisches Ziel war, spürt wenig von der Katastrophe. Allenfalls ist es wärmer: Um Strom zu sparen, werden die Klimaanlagen zurückgedreht. In öffentlichen Gebäuden stehen sie jetzt nicht bei 18, sondern bei 25 Grad, wenn draußen feuchte 35 Grad herrschen. Den Heerscharen uniformierter Angestellter (schwarzer Anzug, weißes Hemd, Aktentasche) wurde Marscherleichterung erlaubt. Sie dürfen auf das Jackett verzichten, wenn sie ins Büro hetzen und abends nach dem obligatorischen Barbesuch mit Kollegen gut gelaunt zur U-Bahn wanken. Dort hängen Plakate, die zum Stromsparen aufrufen. Der Appell wird offenbar befolgt.
Blickt Wolfgang Krüger, Chef des noblen "Shangri-La"-Hotels, nachts aus dem 37. Stock auf Tokio, vermisst er das eine oder andere erleuchtete Highlight. Ihm komme Tokio nachts regelrecht "gedimmt" vor, sagt er. Tagsüber aber läuft die 13-Millionen-Einwohner-Stadt mit voller Kraft, vor allem um die großen Bahnhöfe herum. Die Station Shinjuku passieren, wie vor dem Erdbeben, täglich 3,5 Millionen Reisende, die Gegend ist weiterhin nobel und teuer. Auf der nahen Omotesando, einer französisch anmutenden Allee im Stadtteil Shibuya, geben sich Gucci- und Comme-des-Garçons-Kunden die Klinke in die Hand, als sei nichts geschehen. Unweit, in Harajuku, sind Jugendliche wie eh und je auf der Suche nach billiger und schriller Mode. Besucher aus Europa sieht man indes so gut wie nirgendwo in der Stadt.
Auch nicht an touristischen Brennpunkten wie dem Sensoji-Heiligtum in Asakusa, Tokios ältestem Tempelgelände. Dafür gehen hier Japaner ein und aus. In schweren Zeiten wie diesen kann ein zusätzliches Gebet, ein Wunschzettel, ein zusätzlich entzündetes Räucherstäbchen nicht schaden. Ein meterhoher Lampion am Eingangstor weist den Weg zum Tempel, gleichwohl wird das Viertel von einem anderen Gebäude dominiert: der Zentrale der Asahi-Brauerei, einem güldenen Hochhaus mit weißer Krone, dessen Form einem Bierglas nachempfunden ist, verantwortlich dafür ist der Architekt Philippe Starck. Fernöstlicher Tempel und westlicher Designer-Chic - ein typischer Kontrast in Japan.
Bisher war das Spannungsverhältnis zwischen verschlossenem Autarkie-Streben und weltoffener Ökonomiedenke in Japan scheinbar unter Kontrolle. Politik und Gesellschaft kennzeichnete der Wille zur Konfliktvermeidung und zum Konsens in allen Bereichen. Nach Fukushima aber gibt es eine spürbare Dissonanz, eine Vertrauenskrise der Institutionen. Die Zeitungen widmen viele Seiten der Atomenergie-Diskussion. Die Versäumnisse der Atommanager werden dokumentiert. Minister müssen dem öffentlichen Druck weichen. In Umfragen sprechen sich bis zu 70 Prozent der Befragten gegen Kernenergie aus. Widerstand regt sich. Auch Reiseführerin Chigiri Sahashi hat sich politisiert. Die resolute 60-Jährige ist einer Bürgerbewegung gegen Atomkraft beigetreten.
Ihre Mitglieder treffen sich aber nicht zur Demo auf der Straße, sondern im Internet. Im Netz werden auch die aktuellen Strahlenwerte veröffentlicht. Abgesehen von der Region um das Kernkraftwerk Fukushima sind sie unbedenklich, für Tokio werden sogar niedrigere Werte gemeldet als für New York oder Berlin. Der TÜV Rheinland liefert der deutschen Botschaft täglich selbst gemessene Strahlenwerte. Sie unterscheiden sich nicht wesentlich von den japanischen Messergebnissen. Es sieht also so aus, als sei alles im grünen Bereich.
In Tokio glaubt man nur zu gern daran. Fünf Uhr morgens, auf dem Tsukiji-Fischmarkt läuft schon lange alles wie früher. Nur in den ersten Tagen nach dem Beben herrschte Flaute, längst wird in den Auktionshallen wieder der Thunfisch gehandelt, tonnenweise. Mit Taschenlampen kontrollieren die Händler das Fleisch. An ihren Ständen schneiden sie vor den Augen der Kunden mit langen Messern feine Tranchen ab. Man achtet auf Qualität und gibt viel Geld für erstklassige Ware aus, wie vor der Katastrophe. Auch die Sushi-Lokale neben dem Markt sind gut besucht wie eh und je. Die Frage, ob der leckere Fisch, der hier serviert wird, vielleicht gestern noch im Pazifik am Kraftwerk Fukushima vorbei geschwommen ist, stellt sich offenkundig niemand; Geigerzähler hat jedenfalls kein Besucher dabei.
Je weiter die Reise von Tokio nach Südwesten geht, umso mehr verblassen die Gedanken an die Katastrophe. Am hoch gelegenen Ashinoko-See in der Region Hakone suchen die Tokioter Ruhe und klare Luft. Letzteres finden sie nur bedingt vor, denn hier ist vulkanisches Land, es dampft und raucht aus Felsspalten und riecht nach Schwefel. Das war aber auch vor dem Erdbeben schon so, deshalb betreibt man hier "business as usual" und steigt zur kontemplativen Entspannung in die traditionellen Onsen, die Gemeinschaftsbäder mit Blick in die grüne Natur, die mit dem warmen, schwefelhaltigen Wasser gespeist werden. Mit etwas Glück verzieht sich sogar der Wolkenturm, der hartnäckig den 3776 Meter hohen Fujisan verdeckt.
Geschäftig geht es auch zwei Zugstunden weiter südlich zu, in Kyoto. In der alten Kaiserstadt fällt die Orientierung leicht. Die Straßen sind schachbrettartig angeordnet, es gibt viele Straßenschilder mit lateinischen Buchstaben. Paläste, Tempel, Schreine und andere Weltkultur-Erbstücke sind einfach zu erreichen, viele Guides sprechen passabel Englisch - man hat sich in Kyoto gut eingestellt auf Besucher, vor allem auf ausländische. Doch anders als vor dem Beben bleiben diese Besucher jetzt aus, man begegnet kaum einem europäischen Touristen.
Trotzdem ist die Stadt lebhaft, aber nur dank japanischer Urlaubergruppen. Das Manga-Museum ist für Comic-Fans Pflicht und bestens besucht. Im Gion-Viertel mit seinen alten Holzhäusern reihen sich ausgezeichnete Restaurants und Bars aneinander, sie sind brechend voll. Hier kann man auch Maikos besuchen, junge Mädchen, die sich zur Geisha ausbilden lassen. Maskenhaft geschminkt und in Kimonos gekleidet empfangen manche auch Touristengruppen und berichten von ihrem Beruf, den zu erlernen fünf Jahre dauert. Erst dann sind sie perfekte Tänzerinnen, Sängerinnen, Künstlerinnen, Gastgeberinnen. Sie sehen ihren Beruf als Berufung, als absolut ehrenwert. Fragen von Westlern, ob es nicht an der Zeit wäre, ihr überkommenes Rollenbild zu überdenken, quittieren sie mit Unverständnis.
Dieses gegenseitige Nicht-Verstehen des Lebensgefühls, des Wertesystems des anderen, scheint symptomatisch zu sein, auch jetzt, in Zeiten der Krise. Yvonne ist ein weiteres Beispiel hierfür. Die 23-Jährige ist "Goodwill Guide", die es an vielen touristischen Stätten in Japan gibt: Englisch sprechende Rentner, Hausfrauen, Studenten, die Spaß daran haben, Besuchern kostenlos ihre Stadt zu zeigen. Yvonne studiert Wirtschaft und Tourismus in Kyoto. Am 11. März, dem Tag des großen Bebens, war sie in Singapur. Am nächsten Tag, als viele Westler Japan fluchtartig verließen, flog sie zurück nach Kyoto. Für sie war das keine Frage.
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